Guidelines Inguinalhernie (2024)

Bei der Erstellung wurde dieselbe Methodik angewandt wie fünf Jahre zuvor, das heisst, ein internationales Expertenpanel, ergänzt um Patienten-Vertreter:innen, erarbeitete evidenzbasierte Empfehlungen zu zehn der 28 Kapitel aus der ursprünglichen Publikation. Pro Kapitel wurden Teams aus vier bis sechs Autor:innen gebildet, die jeweils aus Autor:innen der ersten Guideline aus 2018 und «jungen» chirurgischen Forscher:innen bestanden. Insgesamt arbeiteten 30 Co-Autor:innen an der Aktualisierung der Leitlinie, zehn weniger als an der Erstpublikation.

Alle Empfehlungen wurden abschliessend anonym mithilfe eines Online-Tools unter allen Autor:innen abgestimmt.

Es wurde bewusst darauf verzichtet, die Methodologie im Vergleich zur ersten Version der Leitlinie anzupassen. Die Autor:innen führen zwei Gründe hierfür an: Einerseits wurde versucht, methodisch möglichst konsistent zur ersten Version der Leitlinie zu bleiben, andererseits sei es durch die Schwierigkeiten der Covid-19-Pandemie «nicht praktikabel» gewesen, die Methodik an aktuellere Empfehlungen anzupassen.

Die Leitlinie wurde unter Einhaltung der Scottish Intercollegiate Guideline Network (SIGN)-Checklisten erstellt, ausserdem wurden die Grading of Recommendations, Assessment, Development, and Evaluations (GRADE)-Empfehlungen und das Appraisal of Guidelines for Research and Evaluation (AGREE)-Instrument verwendet3–5.

Zehn von ursprünglich 30 Kapiteln wurden überarbeitet (Tabelle 1). Hierzu wurden in den einschlägigen Datenbanken (PubMed, PubMed Central, MEDLINE, The Cochrane central registry of controlled trials, Google Scholar und Embase) «Level 1-Evidenz» und grosse Registerstudien zum Schlagwort «Inguinal Hernia» gesucht und zentral zur Verfügung gestellt. Ausserdem recherchierten die Teams für die einzelnen Kapitel nochmals die relevante Literatur zu den einzelnen Themen. Die Ergebnisse wurden mittels modifiziertem Delphi-Konsensus abgestimmt, wobei eine Zustimmung >70% als Agreement definiert war6. Nach zwei Delphi-Runden wurden die Items am Jahreskongress der European Hernia Society 2022 in Manchester öffentlich diskutiert und nochmals abgestimmt. Letztlich konnte für alle Items, 39 Statements und 32 Empfehlungen, ein Konsensus erreicht werden.

Guidelines Inguinalhernie (1)

Die Autor:innen fassen hier die wichtigsten Empfehlungen der Leitlinie anhand von drei fiktiven, aber realistischen klinischen Szenarien zusammen.

Szenario 1:

Ein 58-jähriger, sonst gesunder Mann verspürt seit mehreren Wochen eine Schwellung der rechten Leiste. In der Sprechstunde wird eine Inguinalhernie diagnostiziert, die Gegenseite und auch der Bauchnabel sind unauffällig. Die Indikation zur elektiven laparo-endoskopischen Inguinalhernienoperation als TAPP mit Netzimplantation wird gestellt. Intraoperativ findet sich auf der asymptomatischen linken Seite eine eindeutige kleine laterale Inguinalhernie. Der Operateur entschliesst sich zur Versorgung der symptomatischen rechten Seite mittels nicht-resorbierbarem schwergewichtigem Polypropylen-Netz. Der postoperative Verlauf ist unauffällig, die ambulante Entlassung gemäss BAG-Vorgaben kann problemlos erfolgen. In der Nachkontrolle sechs Wochen später ist der Patient beschwerdefrei.

Diskussion:

Im überarbeiteten Kapitel 6A/B wird empfohlen, grundsätzlich ein netzbasiertes Verfahren zu wählen. Die Shouldice-Technik kann als Alternative bei entsprechendem Patient:innenwunsch oder guten Gründen für einen Netz-Verzicht (zum Beispiel absehbar geplante Prostataoperation mit Lymphadenektomie) erfolgen, die Lernkurve ist aber lang und es gibt keine Langzeitdaten (> 1 Jahr), die die Nichtunterlegenheit des netzfreien Verfahrens belegen.

Es sollte primär ein laparo-endoskopisches Verfahren als erste Wahl gewählt werden, weil auch die neuere Literatur, die Eingang in die Leitlinie fand, klar zeigt, dass laparo-endoskopische Verfahren eine raschere Rekonvaleszenz, niedrigere Rate chronischer Schmerzen und vergleichbare Rezidivraten aufweisen. Die intraoperative Versorgung einer okkulten kontralateralen Inguinalhernie wird weiterhin kontrovers diskutiert, wobei der Teufel im Detail steckt: Eine okkulte Hernie ist lediglich diejenige, die klinisch nicht diagnostiziert werden kann und auch zu keinem Zeitpunkt Schmerzen bereitet. Oligosymptomatische oder klinisch klar diagnostizierte Hernien können und sollten operativ versorgt werden. Okkulte Hernien wiederum werden nur in der Minderheit der Fälle (knapp 30%) zukünftig versorgungsbedürftig (Kapitel 8).

Zur Wahl der Netze wurde die Nomenklatur vereinheitlicht, sodass nun Netze < 50 g/m2 als leicht bezeichnet werden und Netze > 70 g/m2 als schwer. Bei den offenen Leistenhernienoperationen sollten leichtgewichtige Netze verwendet werden, bei laparo-endoskopischen Verfahren jedoch schwergewichtige. Grundsätzlich sollte – insbesondere bei den offenen Verfahren – auf partiell-resorbierbare Netze verzichtet werden, da sie eine erhöhte Rezidivrate nach sich ziehen (Kapitel 10).

Eine Antibiotikaprophylaxe soll bei laparo-endoskopischen Verfahren nicht erfolgen. Bei offenen Inguinalhernienoperationen soll sie nur in Hochrisikosituationen erfolgen, wobei diese teils vom Patienten abhängen, teils von der Institution/dem Umfeld. Patienten-assoziierte Risikofaktoren sind ein (schlecht/nicht kontrollierter) Diabetes mellitus, BMI >35 kg/m2, Tabakrauchen, ASA-Score > 3, Rezidiv-Operationen und weibliches Geschlecht.

Szenario 2:

Eine 74-jährige Frau stellt sich in der Notaufnahme vor mit seit mehreren Stunden bestehenden, akut einsetzenden Leistenschmerzen links. Klinisch lässt sich keine eindeutige Inguinalhernie palpieren. Die Patientin ist übergewichtig (BMI 30,3 kg/m2), es sind eine koronare Herzkrankheit unter Sekundärprophylaxe mit Aspirin 100 mg/d und einem AT1-Antagonisten und ein medikamentös behandelter Diabetes mellitus bekannt. Das diensthabende Team in der Notaufnahme entschliesst sich zur Durchführung einer CT, nachdem sonographisch inkonklusive Befunde erhoben worden waren. Hier findet sich eine akut-irreponible Hernie mit Dünndarm als Bruchinhalt, der fraglich stranguliert ist. Die Indikation zur diagnostischen Laparoskopie wird gestellt. Intraoperativ findet sich eine Femoralhernie mit einer gefangenen Dünndarmschlinge, die reponiert und erhalten werden kann. Es erfolgt eine TAPP mit einem schwergewichtigen, makroporösen Polypropylennetz.

Diskussion:

Hier wird insbesondere das Kapitel 21 diskutiert (die «notfallmässige Inguinalhernie»).

Der Begriff «inkarzerierte Inguinalhernie» sollte zwischenzeitlich verlassen werden, da er das Problem der akut-irreponiblen Inguinalhernie mit evtl. zusätzlich bestehender Strangulation des Bruchinhalts nicht erfasst. Der akut-irreponiblen Inguinalhernie gegenüber steht die chronisch-irreponible Inguinalhernie, die nicht per se einen Notfall darstellt, wohingegen die akut-irreponible Hernie und die strangulierte Hernie sehr wohl einen Notfall darstellen.

Die entsprechenden Ressourcen und Expertise vorausgesetzt sollten Patient:innen mit akuten Inguinalhernien diagnostisch laparoskopiert werden. Grundsätzlich soll eine akut-irreponible oder strangulierte Inguinalhernie mittels Netz versorgt werden, ausser der intraoperative Situs verbietet dies (z.B. bei Kolonperforationen). Eine Dünndarmperforation oder -Resektion ist keine Kontraindikation zum gleichzeitigen Netzrepair.

Auch wenn es in dieser Vignette nicht erwähnt ist: Ältere, gebrechliche Patient:innen sollten nicht mit einer Spinalanästhesie operiert werden, sondern entweder mit einer Lokalanästhesie (plus monitored anesthesia care, Analgosedation) oder einer Vollnarkose (Kapitel 13).

Szenario 3

Ein 29-jähriger Mann ohne Vorerkrankungen wird aufgrund von rechtsseitigen Leistenschmerzen und Hodenschmerzen zur weiteren Abklärung in die chirurgische Sprechstunde zugewiesen. Vor 6 Monaten wurde eine Inguinalhernie auf der rechten Seite elektiv mittels TEP versorgt. Anamnestisch ist die Operation problemlos verlaufen, es sei jedoch bereit nach einigen Wochen zum Auftreten von Schmerzen gekommen. Bisherige Behandlungsversuche mit verschiedenen Analgetika (NSAR, Paracetamol) hätten nur eine geringfügige, passagere Besserung gebracht. Zuletzt hätten sich die Schmerzen intensiviert und die Schmerzmittel zeigten kaum mehr Wirkung.

Der Patient beschreibt den Schmerzcharakter als einschiessend und elektrisierend, teils auch dumpf.

Durch den Hausarzt wurde der Patient seit 2 Wochen krankgeschrieben. Die Operation ist in einem externen Spital erfolgt und es liegt kein Operationsbericht vor. Bis anhin wurden keine diagnostischen Massnahmen durchgeführt.

Diskussion:

Dieses Szenario diskutiert Kapitel 19, welches das Management von chronischen Schmerzen behandelt.

Chronische Schmerzen (chronic postoperative inguinal pain, «CPIP») sind nach wie vor eine signifikante Komplikation nach Inguinalhernienoperationen. Bei in der Schweiz jährlich mindestens 16'000 durchgeführten Inguinalhernienoperationen stellen sie mit einer Häufigkeit von ca. 3–5% eine nicht unerhebliche Belastung für das Gesundheitswesen dar.

Das Kapitel handelt die Problematik mit drei Schlüsselfragen ab: Welches sind die diagnostischen Modalitäten in der Abklärung von CPIP? Welche chirurgischen Therapieoptionen gibt es? Gibt es Evidenz für nicht-chirurgische Therapieoptionen?

Vorderhand gilt es anzumerken, dass die verfügbare Evidenz zum Thema nach wie vor von niedriger Qualität ist. So wurden zur Aktualisierung dieses Kapitels mitunter auch Kohortenstudien berücksichtigt.

Hinsichtlich der Abklärung und Diagnostik weisen die Autor:innen der Guidelines auf die Wichtigkeit einer ausführlichen Anamnese hin. Die genaue Kenntnis der durchgeführten Operation sowie allfällige Besonderheiten (Komplikationen, ggf. bereits erfolgte pragmatische Neurektomien bei offenen Verfahren) anhand Konsultation früherer Operationsberichte stellt dabei ein zentrales Element dar. Ausserdem sollen auch psycho-soziale Faktoren der Patient:innen berücksichtigt werden.

Die körperliche Untersuchung stellt den Grundstein der Diagnostik dar. Dabei kann ein Haut-Mapping hilfreich sein, um Aufschluss über die betroffenen Areale zu erhalten und auch die Leistenregion der Gegenseite vergleichen zu können. Die Unterscheidung von nozizeptivem und neuropathischem Schmerz ist dabei eher etwas in den Hintergrund gerückt, da nicht selten überlappende Symptomkomplexe vorliegen.

Diagnostische Infiltrationen, entweder als Triggerpunktinfiltrationen oder als periphere Nervenblockaden, können sowohl als Diagnostikum als auch im Rahmen einer nicht-chirurgischen Therapie als sichere und minimal-invasive Methode angewendet werden. Dabei gibt es keine Evidenz über die Art der peripheren Nervenblockade (ultraschallgesteuert vs. nervenstimulatorgesteuert oder anhand anatomischer Landmarken).

Zur Bildgebung der Leistenregion stellt der dynamische inguinale Ultraschall eine kostengünstige und gut verfügbare Basisuntersuchung dar, wobei hierzu seit Veröffentlichung der letzten Guidelines keine neue Evidenz vorliegt.

Die Magnetresonanztomographie wird als hilfreiche Untersuchung nach laparoskopischer, präperitonealer Hernienversorgung erwähnt, wenn auch hauptsächlich zum Ausschluss anderer Pathologien.

Eine chirurgische Therapie von chronischen Schmerzen soll immer sorgfältig und nur nach multidisziplinärer Diskussion (Chirurgie, Neurologie, Physiotherapie, Psychiatrie/Psychologie) indiziert werden. Es stehen offene sowie laparoskopisch-retroperitoneale Operationsverfahren zur Auswahl, entweder als selektive oder sog. Triple-Neurektomie (Nn. Ilioinguinalis, genitofemoralis, iliohypogastricus). Welche Operationstechnik gewählt wird, hängt dabei von der Art der Indexoperation ab. Nach offenen Verfahren bietet sich eine laparoskopische, retroperitoneale Neurektomie an. Die selektive Neurektomie soll dabei unnötige Nebeneffekte der Denervation (Taubheit in zuvor nicht schmerzbetroffenen Arealen, Laxität der Bauchwand) verhindern, wird aber in Anbetracht der grossen Variabilität der Neuroanatomie mit z.T. überlappenden Innervationsgebieten kritisch beurteilt. Die Autor:innen der Guidelines stellen fest, dass die Neurektomie bei einer Mehrzahl der Patient:innen zu einer Verbesserung oder gar vollständigen Regredienz der Schmerzen führt, vorausgesetzt die behandelnde Person verfügt über ein hohes Mass an Erfahrung und Expertise auf dem Gebiet. Allerdings ist von einer Rate an Therapieversagen von 30% auszugehen, schlimmstenfalls sogar mit Verschlechterung der Symptomatik. Hierüber sollen Patientinnen und Patienten zwingend informiert werden.

Die mikrochirurgische Denervation des Vas deferens steht als Methode zur Behandlung chronischer Orchialgie zur Verfügung, soll aber nur bei entsprechender Expertise und unter Studienbedingungen durchgeführt werden.

Als nicht-chirurgisches Therapieverfahren steht insbesondere die wiederholte Infiltration mit Lokalanästhetika als Triggerpunktinfiltration oder peripherer Nervenblockade im Vordergund, welche gemeinsam mit pharmakologischer Schmerztherapie über eine Zeitspanne von mindestens 3 Monaten empfohlen wird. Die epikutane Anwendung von Lidocain oder Capsaicin hat dagegen keinen Benefit in der Behandlung von CPIP. Insgesamt wird in Anbetracht der Komplexität der Problematik die Behandlung von CPIP in spezialisierten Zentren stark empfohlen.

Reviewed by

Claudia Stieger, Editorial Board

Guidelines Inguinalhernie (2024)

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